Nr 3: Prokofjew-Bearbeitung für Jazz-Ensemble und Streicher

Für "Think big!", das 12. Kammermusikfestival der HMTMH, wurde ich von Prof. Markus Becker gefragt, ob ich mir einen Beitrag zum Oberbegriff "Bearbeitungen" vorstellen könnte. Mir fiel auf Anhieb ein sehr unbekanntes Stück von Sergei Prokofjew ein: "Eugen Onegin". Dabei handelt es sich um ein musikalisch-dramatisches Werk für Sprecher, Schauspieler und Symphonieorchester nach der gleichnamigen Novelle von Alexander Puschkin.

Es sind zwei Saxophone besetzt, weshalb ich vor etwa zehn Jahren an Aufnahmen des Stückes vom RSO Berlin beteiligt war. Als Saxophonist sitzt man selten mitten in einem Orchester und ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie überrascht, beeindruckt und inspiriert ich damals war. Ich bin es seitdem immer wieder und habe oft darüber nachgedacht, ob und wie es möglich wäre, es möglichst verlustfrei in die musikalische Welt des Jazz zu übertragen.

Die Orchestration hat mich beeindruckt. Ich habe mir zunächst eine Aufnahme besorgt, musste aber feststellen, dass es mir nicht möglich ist, das Stück im Detail zu transkribieren. Aus der Partitur habe ich dann viele Erkenntnisse gewonnen, die ich seitdem bei verschiedenen Gelegenheiten anwenden konnte, insbesondere (aber nicht nur) wenn ich für Orchester schreibe. Unter anderem betrifft das eine Passage, in der zwei Klarinetten Arpeggios auf Dreiklängen in unterschiedlichen Metren spielen, eine in 16tel Triolen, die andere in 32teln. Die Bratschen spielen ebenfalls 32tel Arpeggios zweistimmig auf den selben Dreiklängen, aber mit einem anderen Tonhöhenverlauf. Dadurch entsteht ein schwebender, flimmernder Klangteppich. Das rhythmische Fundament bieten die ersten Celli und das zweite Pult der Kontrabässe mit Pizzicato Achteln. Der harmonische Verlauf verhält sich nahezu identisch mit der Melodie.

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In einer anderen Passage wird die Melodie von einer Flöte und einer Klarinette so gespielt, dass man nicht unterscheiden kann, welches der Instrumente wo anfängt und aufhört. Sie sind ineinander verwoben, die Einsätze sind verschleiert durch dreitönige Vorschläge an jedem Taktbeginn. Von der achttaktigen Melodie wie man sie hört findet man in der Partitur nie längere Abschnitte als zweieinhalbTakte wieder, man muss sie sich aus beiden Stimmen zusammensetzen. Charakteristisch sind hier, typisch für Prokofjew, große Intervalle und sehr dissonante Töne mit chromatischem Bezug zum Grundton und zur Quinte der Tonart.

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Mir wurde sehr schnell klar, dass es vermessen wäre, die Orchestration bei einer Bearbeitung für Kammerensemble nachzuempfinden. Bei der Wahl der Besetzung war es mir zunächst wichtig, die kleinstmögliche Besetzung zu finden, mit der es sowohl möglich wäre, viele klangliche Facetten, als auch die gewohnt interaktive Spielpraxis, wie sie mir aus dem Jazz vertraut und wichtig ist, darzustellen. Ich entschied mich also für zwei Streicher (Violine und Cello), Klavier, Bass, Schlagzeug und einen Bläser, der sich mit "Changes", also Improvisation auf Grundlage von Akkordsymbolen, auskennt.

Als hauptsächlich Jazzkomponist und -arrangeur sind für mich zwei der größten Vorzüge von Streichinstrumenten, dass sie nicht atmen müssen und dass sie langsame, stufenlose Glissandi spielen können. Letzteres trifft beim typischen Jazzinstrumentarium nur auf Posaunen zu, und atmen müssen die trotzdem, wenn sie nicht Zirkularatmung beherrschen.

Ich habe dann sehr genau analysiert, wie die zwei bis drei Themen, die ich verwendet habe (in dem Originalwerk gibt es mindestens noch vier weitere), genau funktionieren, wenn man die oben genannten klanglichen Phänomene einmal außer acht lässt. Ich versuchte mich an einer harmonischen Analyse, die im Idealfalle auch mittels handelsüblicher Akkordsymbole darstellbar sein würde. In einer der Hauptpassagen ist das Originalwerk, bezogen auf die Anzahl verschiedener gleichzeitiger Tonhöhen (Oktavierungen nicht mitgezählt), dreistimmig. Harmonisch beginnt sie so:

Für mich klingt das alles nach G-moll mit wechselnden Basstönen, und es würde mich sehr interessieren, wie Prokofjew selber es aufgefasst hat. Ich hatte deshalb auch in Erwägung gezogen, die Bassbewegung nicht zu übernehmen, fand sie aber doch zu wichtig. Der harmonische Verlauf lautet in meiner Sprache:

Die beiden auftaktigen Akkorde Fis-moll habe ich nicht übernommen. Natürlich stehen bei meiner Formulierung mehr Töne für die harmonische Gestaltung zur Auswahl, so z.B. bei Gm(Maj7) über Basston Bb, gegenüber einem übermäßigen Bb Dreiklang, die Töne g und a. Die Maj7 (fis) sollte über dem g liegen und es ergibt sich folgendes Voicing:





Da ich statt C-moll mit es im Bass hier Eb6 schreibe, bedeutet das den zusätzlichen Ton d (die Maj7).

Eine große Gefahr ist dabei der zu beliebige Umgang mit Tensions (Optionstönen). Als Beispiel: Ein Molldreiklang mit Terz im Bass in weiter Lage ist ein großartiger Klang, der sich nicht immer einfach so durch das Akkordsymbol Bbm/Db ersetzen lässt. Angenommen, ein Jazzpianist würde dann Septime, None, Quarte, etc. mit in sein Voicing nehmen, der klangliche Verlust wäre riesig. In solchen Fällen schrieb ich im Klavier zunächst keine Akkordsymbole:

Als Arrangeur und Komponist muss man sich entscheiden, ob man einen Klang auf ganz spezifische Weise hören will, oder ob man davon ausgehen kann, dass die Aufführungspraxis des Jazz mit Akkordsymbolen evtl. sogar Voicings hervorbringt, die man sich nicht besser hätte ausdenken können. Hier kommt der Begriff "Personalstil" ins Spiel und es ist von Vorteil, wenn man die Musiker für die man schreibt sehr gut kennt. Eine Möglichkeit von Voicings für diesen Abschnitt sind im folgenden Beispiel zu sehen (für eine größere Darstellung bitte auf das Bild klicken):

In meiner Bearbeitung gibt es eine langsame Entwicklung, ausgehend von Zweistimmigkeit zwischen Melodie und einem einzelnen Pedalton als Begleitung. Später kommt der Bass hinzu, dann das Klavier, zunächst mit ausnotierten Akkorden, dann eine zweistimmige Achtel-Begleitfigur bei den Streichern, die den Pedalton ablöst. Und erst dann verwende ich die jazztypische Schreibweise in Akkordsymbolen, kurz bevor das erste Solo beginnt (Solo im Jazzsinne, also Improvisation über einen gegebenen harmonischen Verlauf).

Eine andere Passage steht ebenfalls in G-moll, sie ist acht Takte lang und g ist durchweg der Basston, mit jeweils einem d Auftakt auf der 4. Zählzeit. Darüber entwirft Prokofjew einen bitonalen harmonischen Verlauf, der zum Teil wesentlich dissonanter ist, als er zunächst erscheint. Ein großer Teil der Dissonanzen wird von der Harfe gespielt. Darüber hinaus und wesentlich deutlicher wahrnehmbar entsteht sie aus der Melodie zusammen mit einer Begleitfigur in Hörnern und Fagott, die wiederum jeweils auf den Zählzeiten 2 und 3 klingt. Sie wechselt zwischen D-Dur und C-moll, also Dominante und Subdominante (jeweils aber über den Basston der Tonika G-moll). Der Wechsel zwischen diesen beiden Harmonien passiert nicht immer in der gleichen Abfolge, sondern mal C-moll – D-Dur, mal umgekehrt. So entsteht etwas Schwebendes, Pendelartiges, stets um G-moll kreisend und zugleich ambivalent durch die Töne c und es in C-moll und den Ton fis in D-Dur. Die Harfenbegleitung beinhaltet u.a. diese Harmonien:

Tatsächlich gleichzeitig erklingen diese teils extremen Bitonalitäten allein durch die Harfe, ansonsten handelt es sich um ein kunstvoll rhythmisch ausbalanciertes Wechselspiel zwischen Basstönen, Melodie und Begleitung. Ich hätte das so nur samt der gesamten Orchestration darstellen können. Tatsächlich erklingt der bitonale harmonische Verlauf in meiner Bearbeitung in verschiedenen rhythmisch freien Passagen des Klaviers, der Violine und später noch den Streichern zusammen mit dem Kontrabass (für eine größere Darstellung bitte auf das Bild klicken):

Sowie mit Streichern:

Ich habe den rhythmischen Aspekt insgesamt stärker betont, was gegenüber dem Originalwerk zu einer eher brachialen Wirkung beiträgt. Harmonisch habe ich mich sowohl der Begleitfigur der Hörner (C-moll und D-Dur) als auch der Harfenbegleitung bedient. Letztlich hat die Melodie dies entschieden, die sich in den ersten vier Takten zunächst um den Grundton herum zur Quinte hin bewegt, in den zweiten vier Takten genau anders herum, von der Quinte aus zurück zum Grundton. In den letzten beiden Takten dominiert vor allem die parallel zur Melodie verlaufende harmonische Bewegung A-Dur, Fis-Dur, F-Dur, D-Dur (alles über den Basston g), die ich an der Stelle so übernommen habe.

Als ganzes betrachtet entsteht eine ostinate achttaktige Form in G-moll (nebst C-moll und D-Dur, oder irgendwie alles zugleich) und ein im weitesten Sinne kadenzieller Verlauf in den letzten beiden Takten, der sich zur Wiederholung der Form hin auflöst. Dies ist eine ideale Struktur für eine offene Wiederholung mit Solist und einer Begleitung, die nach bester Coltrane-Manier aus teils festgeschriebenen Elementen und teils Interaktion besteht.

Sehr beeindruckt hat mich das Ende von Prokofjews Werk. Es steht in E-moll und hat über die gesamte Länge den Ton e in der Oberstimme. Eine zweite Stimme bewegt sich chromatisch von diesem e abwärts über es, d nach c, was eine starke Signalwirkung hat. Ich kannte so etwas bisher nur von Milton Nascimento ("Miracle of the Fishes", von Wayne Shorters Album "Native Dancer") und habe selber in einigen Stücken so komponiert (beispielsweise in der Bigbandfassung von "Mars in Uterus").

Unter dem Ton e vollzieht sich folgender harmonischer Verlauf:

Die Dreiklänge verlaufen absteigend, die Basslinie in Gegenbewegung aufwärts. Hier zeigt sich, wie sehr kompatibel die verschiedenen harmonischen Konzepte sind. Die Verbindung von Dreiklängen mit Basstönen ergibt teils sehr gebräuchliche Jazzharmonien, nämlich:

* C7alt: Hier ist es eigentümlich, wenn die Durterz e über dem es, der #9, liegt. Streng gesehen wäre das eine Beugung gängiger Regeln, in dem Zusammenhang dafür um so interessanter.

Diese Harmoniefolge hat mich derart begeistert, dass sie in meiner Bearbeitung einen hohem Stellenwert einnimmt. Sie stellt den Beginn dar, ohne Puls und mit sehr geringer rhythmischer Ereignisdichte, um möglichst viel Fokus und Transparenz zu erzeugen. Ein wesentlicher Teil der harmonischen Informationen kommt von der Bassfigur, jeweils einem Arpeggio in weiter Lage, welches das verbindende Element zur Schlusspassage ist.

Es gibt eine Reprise des gesamten Anfangs, die dann in den letzten Abschnitt überleitet. Dabei handelt es sich um den gleichen harmonischen Verlauf, allerdings rhythmisch konkretisiert, ohne Fermaten, mit durchlaufendem 6/4-Takt und einem ebenfalls durchlaufendem 4 über 3 Puls (punktierte Achtel) (für eine größere Darstellung bitte auf das Bild klicken):

Auch diese zwölftaktige Form bietet einen guten Rahmen für die o.g. Improvisation über einen gegebenen harmonischen Verlauf. Ich habe es dabei belassen und forciere interaktives Musizieren, indem ich keinen Schluss "geschrieben" habe, sondern davon ausgehe, dass die Improvisation einem Spannungsverlauf folgt, zur Ruhe kommt und somit dann das Stück beendet.


Jonas Schoens Bearbeitung von Sergei Prokofjews "Eugen Onegin" ist am 6. Juni 2012 um 19:30 Uhr im Richard Jakoby Saal zu hören.

 

Mehr Infos


Jonas Schoen ist Professor für Saxofon und Komposition an der HMTMH, außerdem leitet er u.a. die Working Band der JRP-Abteilung. Mehr Infos über ihn gibt es auf seiner Homepage.

veröffentlicht im Juni 2012

Zuletzt bearbeitet: 03.06.2012

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