Nr 1: stories untold

Die Studiobigband der HMTMH spielt am 14. April 2012 ein Doppelkonzert mit der NDR Bigband unter der Leitung unseres Dozenten für Bigbandleitung und Posaune, Jörn Marcussen-Wulff. Bei dem Konzert im Richard Jakoby Saal wird unter anderem Marcussen-Wulffs Eigenkomposition stories untold zu hören sein. Im Interview verrät der Komponist, welche Rollen Sprache und Gesang in seinen Arrangements haben und wie er Free Jazz und Bigband-Arranging verbindet.


Interlude: Am 14. April leitest du in einem Doppelkonzert sowohl die Studiobigband als auch die NRD Bigband. Diese präsentiert am Abend stories untold, sechs Kompositionen/Arrangements aus deiner Feder. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit der NDR Bigband, sowohl für dich als Komponist als auch als Leiter der Studiobigband?

Jörn Marcussen-Wulff: Ich konnte im letzten Jahr ein Kompositionsstipendium des Landes Niedersachsen nutzen, um ein Bigbandprogramm zu schreiben. Ich wollte die Musik von Vornherein für eine feste Besetzung konzipieren. Also habe ich meine Ideen und Entwürfe beim NDR vorgestellt. Anscheinend hat es den Kollegen gefallen, auf jeden Fall haben sie mir sofort zugesagt. Es ist mir sehr wichtig meinen Studentinnen und Studenten möglichst viel Praxiserfahrung zu vermitteln. Da ist die Zusammenarbeit mit der NDR Bigband eine perfekte Gelegenheit ins professionelle Geschäft hineinzuschauen und einige Erfahrungen zu sammeln daher das Doppelkonzert.

I: Was war deine Idee für stories untold?

JMW: Mein Programm beschäftigt sich damit, wieviel "Sprache" es benötigt, um eine Geschichte zu erzählen. Musik dient oft nur als Begleitfunktion, um den Gesang bzw. die Sprache zu unterstützen. Das wollte ich ändern. Im Laufe der Zeit hat sich dieses Konzept verselbstständigt. Herausgekommen sind nur zwei Stücke mit Gesang und vier Instrumentalkompositionen. Bei den zwei Stücken mit Gesang (bei dieser Produktion wird die wunderbare Karin Meier aus Zürich singen) sind die Texte meiner Meinung nach so gut und eindrucksvoll, dass sie für sich stehen. Die Musik soll sie so gut wie möglich verstärken. Bei einem Stück improvisiert die Sängerin mit dem Text und interagiert mit einem Instrumentalsolisten. Auf diese Weise wird der starre Rahmen von Versmaß oder ähnlichem aufgebrochen, um den Worten an sich mehr Gewicht zu geben. Die Stücke ohne direkten Text haben entweder eine sprachähnliche Melodie oder einen sprachähnlichen Rhythmus, skizzieren imaginäre Gespräche oder haben konkrete Geschichten als "roten Faden", der sich durch die Musik zieht.

I: Allerdings ist die Sängerin bei dir auch ein Teil der Bläser-Section, nicht nur Themen-Sternchen. Kannst du darüber etwas mehr erzählen?

JMW: Die Sängerin hat in den Arrangements auf jeden Fall wichtigen Text. Bei beiden Stücken singt sie aber auch im Satz mit anderen Instrumenten: Bei And so it goes singt sie zusammen mit dem Saxophonsatz und begleitet den Solisten. Da ich die Frauenstimme dabei recht hoch gesetzt habe und sie nur mit der Silbe "Duuu" artikuliert, kann sie in diesem Fall teilweise als "Leadstimme" agieren und den Saxophonsatz führen. Bei dem Stück The road not taken singt die Stimme Unisono-Linien zusammen mit Posaune und Altsax. Sie singt dabei in der Oktave über den beiden anderen Instrumenten, wodurch die Linie noch einen schöneren Glanz bekommt. Ich habe mich dabei für dieses Trio entschieden, weil ich die Kombination von Stimme und Posaune bzw. Posaune und Altsax schon immer sehr spannend fand. (Was vielleicht damit zusammenhängen könnte, dass ich Posaunist bin). Ich habe der Sängerin dabei keine Vorgaben für die Wahl der Silben gemacht, weil ich möchte, dass sie je nach Klang entscheidet, welche Silbe sie im Zusammenspiel nutzen möchte. Auf diese Weise kann sie immer wieder verschiedene Obertonstrukturen im Verhältnis zu den beiden Bläsern einsetzen. Ein großer Vorteil des Instruments Stimme!

I: Es gibt mittlerweile fast 80 Jahre Bigbandtradition, von Sammy Nestico und Ellington/Strayhorn bis Bob Brookmeyer und Maria Schneider. Könntest du ein wenig über die Kompositionskonzepte hinter deinen Arbeiten erläutern? Welchen Bezug gibt es in deinen Arrangements noch zu dieser Tradition, und welche anderen (Arrangement-) Einflüsse gibt es?

JMW: Zu den Kompositionskonzepten kann ich in aller Kürze sagen, dass ich bei jedem Stück versucht habe, ein anderes Herangehen zu wählen. Bei einem Stück habe ich z. B. aus einer 4-Ton-Keimzelle heraus ein Notenblatt mit einem Thema vollgeschrieben. Das habe ich dann zuerst für ein Trio arrangiert und dann zu einem großen Ensemble erweitert. Auf diese Weise bekommen die einzelnen Stimmen (die ursprünglich aus der Trioversion stammen) mehr Gewicht und man setzt sich sehr gezielt mit dieser Dreistimmigkeit auseinander. Bei einem anderen Stück habe ich zuerst eine (zugegebenermaßen recht unsaubere) 12-Tonreihe entwickelt, auf deren Grundlage das restliche Stück aufgebaut ist. Sehr interessant ist es auch, wie man mit der Form des Stückes umgeht. Ich habe bei einigen von vornherein die Form festgelegt, damit der Rahmen, in dem die Komposition stattfinden soll, klar ist. Bei anderen habe ich ganz bewusst darauf verzichtet, um zu sehen, wo mich der Prozess hinführt. Das kann natürlich auch ziemlich ins Auge gehen und man produziert recht viele Noten für den Papierkorb, aber im Endeffekt lohnt sich diese Arbeit sehr, weil das Ergebnis genau wie eine Improvisation sehr ehrlich und nah beim Musiker ist. Eine weitere (weit verbreitete) Art zu komponieren ist das Anfertigen einer Stilkopie. Wenn ich dabei trotzdem meiner Art Melodien zu schreiben treu bleibe, dann kann daraus wiederum eine interessante Kombination von mir und dem Vorbild meiner Kopie entstehen.

Zu der Frage nach meinen Einflüssen und dem Bezug zur Bigbandtradition kann ich ganz klar sagen, dass ich auf jeden Fall von der Bigbandtradition und ihren Komponisten und Arrangeuren beeinflusst bin. Ich denke, kein Komponist kann heutzutage "das Rad neu erfinden". Dafür gab es in den letzten 100 Jahren einfach zu viele kreative Musikerinnen und Musiker, die sehr gute und innovative Musik geschrieben haben. Wenn man sich zum Beispiel Aufnahmen von Duke Ellington anhört (der einer der ersten Bigbandkomponisten war), dann merkt man, wie hip seine Musik bis heute ist. Ellington hat in den 30er Jahren Stücke geschrieben und arrangiert, die bis heute "modern" und "gewagt" klingen. Man kann aber seinen eigenen Kompositionen eine persönliche Handschrift geben, die die Musik dann doch wieder zu etwas "neuem" machen. Was meine musikalischen Einflüsse angeht, so ist für mich (wie für viele andere auch) Bob Brookmeyer auf jeden Fall ein ganz großes Vorbild. Außerdem bin ich ein großer Fan von Ed Partyka und seiner Musik. Ich habe ihm auch eines der Stücke gewidmet.

Daneben gibt es eine Vielzahl Kollegen, die meine Musik beeinflussen: z. B. Nils Wogram und Rainer Tempel (bei denen ich dankenswerterweise Unterricht bekommen durfte und viel gelernt habe) oder der portugiesische Komponist Paulo Perfeito (ein Schüler von Brookmeyer, mit dem ich im European Movement Jazz Orchestra zusammen spielen darf, und dessen emotionale Art zu schreiben mich immer wieder beeindruckt). Ansonsten versuche ich das, was mich in meinem alltäglichen Leben beeinflusst, mit in meine Musik aufzunehmen.
Je länger und intensiver man sich mit der Materie Komposition und Arrangement beschäftigt, umso besser wird die eigene Vorstellungskraft, wie etwas klingen könnte. Für mich war es total wichtig, immer wieder verschiedenste Partituren (von Basie bis Barry Guy) zu lesen, zu analysieren und dann die entsprechenden Aufnahmen dazu zu hören. Mit diesem Wissen habe ich die ersten Arrangementversuche gemacht, bis die ersten kompletten Bigbandkompositionen fertig waren. Ich hatte zuerst sehr großen Respekt vor diesem großen Klangkörper und dachte, dass ich es nicht schaffe, diesen Sound zu beherrschen. Man muss aber einfach anfangen zu arbeiten und zu schreiben, dann wird es mit der Zeit leichter und man wird besser … eigentlich genau wie beim instrumentalen Üben. Wenn man jeden Tag konzentriert arbeitet, dann kommt man mit der Zeit weiter.

I: Deine Kompositionen für deine Bands JMW's Autoritäten oder das JMW Quintett enthalten oft freie Passagen, genauso zum Beispiel das Bigband-Arrangement deines Busy Times. Was sind deine Erfahrungen mit der Organisation freier Komponenten für große Ensembles im Gegensatz zur Trio- oder Quintettbesetzung? Welche Unterschiede, Vor- und Nachteile siehst du, die der Arrangeur beachten sollte?

JMW: Freie Musik zu "komponieren" ist so eine Sache. Entweder schreibt man für ein festes Ensemble, bei dem man die Musikerinnen und Musiker kennt und weiß, wie sie interagieren und frei improvisieren. Dann kann man die freien Elemente gut in seine Komposition einbauen, weil man mit recht hoher Wahrscheinlichkeit ein Klangergebnis bekommt, dass man zumindest im Ansatz erwartet hat. So arbeite ich zumindest in meinem Quintett und dem Autoritäten-Trio. Der Vorteil bei diesen beiden Ensembles ist auch, dass ich selber mitspiele und dadurch zu jeder Zeit selber Einfluss auf die Musik, die in dem Moment entsteht, nehmen kann.
Wenn ich für ein großes Ensemble schreibe, bei dem ich nicht selber mitspiele, dann gibt es für mich drei Optionen:

1. Ich muss mir die einzelnen Solistinnen und Solisten oft anhören oder sie am besten direkt kennenlernen, um zu verstehen wie sie spielen (so habe ich es bei der NDR Bigband gemacht. Zum Glück habe ich mit einigen der Kolleginnen und Kollegen schon selber zusammen gespielt. Andere habe ich zumindest schon auf anderen Konzerten der NDR Bigband gehört).

2. Ich muss die Komposition so gestalten, dass die Musik dehnbar ist und sich so verändern kann, dass die Solistinnen und Solisten ihren Freiraum haben. Das bedeutet  natürlich auch, dass man unter Umständen ein vollkommen anderes Klangereignis zu hören bekommt als man ursprünglich gedacht hat. Ich persönlich mag diese "Überraschungen" sehr, weil dadurch oft ganz neue Stücke entstehen. Allerdings muss man hinterfragen, inwieweit das noch eine "Komposition" im engeren Sinne ist oder ob es nicht eher eine "Spielanweisung" darstellt, mit der die ausführenden Musikerinnen und Musiker arbeiten.

3. Ich muss die freien Teile einer Komposition so gut beschreiben (in der Partitur oder verbal in der Probe), dass die Instrumentalisten eine Vorstellung von meiner Klangvorstellung erhalten. Dabei helfen Metaphern, die die musikalische Ästhetik beschreiben. Oft helfen kleine Umschreibungen wie "play a really sad song" oder "play evil". Außerdem gibt es ja auch die Möglichkeit der graphischen Notation (auch innerhalb des traditionellen Notentextes). Mit Hilfe dieser Schreibweisen und einer entsprechend erklärenden Legende kann man seine Vorstellungen eigentlich meist sehr gut beschreiben.
Bei großen Ensembles ist es aber vor allem wichtig, dass die Musikerinnen und Musiker bei freier Musik die Ohren für ihre Mitspieler/innen offen haben. Wenn es z.B. um eine improvisierte Klangfläche geht, dann muss sich jeder der ausführenden Instrumentalisten als Teil dieser Klangstruktur wahrnehmen und nicht als Solist. Auch hier hilft es, als Komponist und Leiter immer wieder darauf hinzuweisen.
Wenn ein großer Klangkörper diese Verhaltensweisen befolgt, entsteht eine Klangvielfalt, die man sonst nur sehr schwer hinbekommt.

Wenn man allerdings nicht auf diese Dinge achtet und als Komponist und Leiter nicht entsprechend vorbereitet ist, dann kann so ein freies Konzept sehr schnell im Chaos versinken...wobei auch das Chaos manchmal seinen Reiz hat, aber das würde jetzt zu weit führen...

I: Du bist an der HMTMH unter anderem als Bigband-Dozent aktiv. Worauf kommt es dir bei dieser Arbeit an? Was ist dir wichtig, den Studierenden zu vermitteln?

JMW: Meine Hauptarbeit ist die Leitung der Studiobigband. Ich finde es sehr wichtig, dass jeder Jazzstudierende einen Überblick darüber bekommt, was es  an Repertoire für Bigband gibt. Daher versuche ich, dass alle Studierenden bis zu ihrem Abschluss einen mehr oder weniger vollständigen Durchlauf durch die Bigbandgeschichte gemacht haben. Wenn man Stücke von Duke Ellington spielt, dann muss man anders phrasieren als wenn man Stücke aus dem Repertoire der Basie Band spielt. Außerdem gibt es mittlerweile so viele sehr gute Komponisten, die für Jazzorchester schreiben, dass man kaum den Überblick behalten kann. Daher suche ich neben den „Traditionals“ vor allem junge europäische Komponisten heraus, damit die Studierenden Sachen kennenlernen, die sie sonst vielleicht nicht hören und spielen würden.

Außerdem ist mir wichtig, dass alle Studierenden gute Blattleser/innen werden. Das wird meiner Meinung nach nicht überall wirklich trainiert, dabei ist das eine der wichtigsten Eigenschaften, wenn es um Jobs und effektives Arbeiten geht.

I: Was sind deine nächsten Bigband-Pläne?

JMW: Ich werde das Programm, welches ich jetzt für die NDR Bigband geschrieben habe, gern auf eine CD bannen. Wie und wann das geschehen wird, steht noch nicht fest, aber ich freue mich jetzt schon auf dieses Album. Die Konzerte werden mitgeschnitten.

Ansonsten werden wir mit der FETTEN HUPE Hannover, die ich zusammen mit Timo Warnecke leite, im kommenden Jahr eine CD mit eigenen Titeln aufnehmen. Da werde ich natürlich auch wieder Musik beisteuern. Außerdem geht es im Sommer mit dem European Movement Jazz Orchestra auf eine kleine Tour nach Portugal, auch da werden wir ein Stück von mir spielen. In der zweiten Jahreshälfte übernehme ich dann die Leitung des "Marburg Jazzorchestra" mit dem wir Stücke von deutschen Komponisten (Florian Ross, Rainer Tempel, Oliver Leicht, etc.) aufführen werden. Da werde ich auch mal wieder als Solist zu hören sein.


stories untold ist am 14. April 2012 um 19:30 Uhr im Richard Jakoby Saal zu hören, sowie am 15. April um 19 Uhr in der Konzertkirche St. Martini in Brelingen.

 

Mehr Infos


Jörn Marcussen-Wulff unterrichtet seit 2009 an der HMTMH Ensembleleitung und Posaune, außerdem leitet er die Studiobigband. Mehr Infos über ihn gibt es auf seiner Homepage.

Das Interview führte .

veröffentlicht im April 2012

Zuletzt bearbeitet: 18.04.2013

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